Historie Wissenwertes

Übersicht

1 Einleitung

2 Herkunft und Entwicklung des Tai Chi
2.1 Tai Chi und die taoistische Philosophie
2.2 Tai Chi und die alte chinesische Gesundheitslehre

3 Wirkung des Tai Chi Chuan auf den menschlichen Organismus
3.1 Das Nervensystem
3.2 Einflüsse auf das Atmungssystem
3.3 Einflüsse auf das Verdauungssystem
3.4 Einflüsse auf Atmung und Kreislauf
3.5 Einflüsse auf den Bewegungsapparat

4 Zusammenfassung (in einem Satz)

1 Einleitung

Seit der Öffnung Chinas in den siebziger Jahren berichteten unsere Zeitschriften und Fernsehanstalten häufiger über dieses Land, nicht nur über Politik und Wirtschaft, sondern auch über die jahrtausendealte Kultur und das heutige Alltagsleben. Die Zahl der Reisenden nach China hat sich in den letzten 10 Jahren vervielfacht. Kaum einem von ihnen dürften die großen Gruppen von jüngeren und vor allem auch älteren Menschen morgens in den Straßen und Parks entgangen sein, die für uns fremdartig anmutende, langsame Bewegungsfolgen miteinander üben. Ob durch die Medien, ob durch eigene Reiseeindrücke oder durch Hinweise auf Kursangebote in unserer Nähe – TaiChi, die Chinesische Bewegungsmeditation, wird auch hierzulande immer bekannter.

Fernöstliche Kampfsportarten, wie das japanische Karate oder das koreanische Taekwondo sind schon länger bei und heimisch geworden; Judo gehört inzwischen sogar zum Standardprogramm der olympischen Spiele. Daß auch TaiChi eine seiner Wurzeln in der Selbstverteidigung hat, mag denjenigen verwundern, der zum ersten Mal die im Zeitlupentempo ausgeführten, eleganten Bewegungen sieht. Die Bezeichnung chinesisches Schattenboxen für das TaiChi wird da schon deutlicher.

Wer sich für Tai Chi interessiert, fragt meistens zuerst nach den gesundheitlichen Wirkungen. Alle Bewegungen beim Tai Chi können ohne körperliche Überanstrengung durchgeführt werden, da sie langsam und harmonisch sind. Daher gibt es weder eine Altersgrenze noch medizinische Bedenken – selbst im Falle chronischer Erkrankungen wie Krebs oder Arteriosklerose -, wenn jemand Tai Chi lernen möchte. Ganz im Gegenteil, Tai Chi hat sich in vielen Fällen als therapeutische Heilgymnastik bewährt und ist eine wirkungsvolle Gesundheitsvorsorge gerade für ältere Menschen, wenn es regelmäßig praktiziert wird. Im alten China wurden schon vor Tausenden Jahren Übungen entwickelt, die Gesundheit und ein langes Leben zum Ziel hatten, und Tai Chi steht ganz in dieser Tradition.

Mit alledem soll nun keineswegs gesagt werden, daß es für jüngere Menschen weniger interessant sei, Tai Chi zu erlernen. Heute beginnen die Leistungsanforderungen bereits in jungen Jahren, meistens schon in der Schule, und dann steigen sie im Berufsleben oft noch drastisch an. Zum Ausgleich für einseitige körperliche und geistige Belastungen betreiben immer mehr Menschen Sport, was sicherlich eine gute Entwicklung ist. Doch auch hier dominiert oft die Leistung vor der Freude, die Konkurrenz vor der Gemeinsamkeit. Ein ganzer Zweig der Sportmedizin lebt heute von den Resultaten einer Überforderung und falschen Behandlung unseres Körpers. Selbst wer körperlich leistungsfähig ist und sich für „fit“ hält, kann sich dennoch oft unwohl fühlen. Das mag an einer ungesunden Ernährung liegen oder seine Ursache mehr im seelisch-geistigen Bereich haben, in einem Gefühl der Unzufriedenheit mit sich selbst und dem Leben.

Unseren technisch bestens ausgestatteten Krankenhäusern zum Trotz setzt sich immer mehr die Einsicht durch, daß viele Krankheiten psychosomatisch verursacht sind und sich nicht „wegoperieren“ lassen. Der körperliche, geistige und seelische Zustand des einzelnen Menschen ist stets auch ein Abbild der politisch-gesellschaftlichen Situation. Unsere westliche Zivilisation hat zweifelsohne einen hohen Standard in der Technik und einen beachtlichen materiellen Wohlstand erreicht. Doch zahlen wir auf der anderen Seite auch einen hohen Preis dafür. Die zunehmende Zerstörung der Natur durch rücksichtslose Industrien, die allen Abrüstungsverhandlungen zum Trotz weiterlaufende Produktion von riesigen Waffenarsenalen, weltweite soziale Ungerechtigkeiten und alljährliche Hungerkatastrophen – all dies zeigt uns doch tagtäglich, daß unsere Welt und auch unser Land nicht so sind, wie wir es uns vielleicht wünschen.

Diese Probleme lassen uns nicht so recht zufrieden werden mit den materiellen Gütern, die uns hier, in einem relativ wohlhabenden Land Westeuropas, zur Verfügung stehen. Immer mehr jüngere wie ältere Menschen fragen sich nach dem Sinn des Lebens und versuchen, ihren eigenen Lebensstil im Rahmen der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse positiv zu verändern. Sie haben erkannt, daß es mehr bedarf, um glücklich zu sein, als genug Geld zu haben, um gut essen, wohnen und verreisen zu können. Oft geben ein persönliches Unglück oder eine Krankheit den Anstoß dazu, sich neu zu orientieren.

Wer aber damit beginnt, Körper, Geist und Seele wieder stärker ins Gleichgewicht zu bringen, wer nach einem streßfreieren und liebevolleren Umgang mit sich selbst und anderen strebt, der wird durch seine eigene Veränderung stets auch den Menschen in seiner Umgebung einen Anstoß zum Nachdenken geben. Wer sensibler wird für seinen eigenen Körper, der wird auch aufmerksamer werden für alles Leben, gleich, ob von Mensch, Tier oder Pflanze. Wer in sich selbst Entspannung und Frieden findet, der wird kaum zur Zerstörung der Natur beitragen.

Was im Westen weitgehend verlorengegangen ist, können wir vielleicht aus dem Osten lernen. In der alten chinesischen Philosophie gibt es das Prinzip von Yin und Yang, die als entgegengesetzte Polaritäten alles in Bewegung halten und doch zugleich eine Einheit darstellen. Dabei steht Yin für das passive Prinzip, für das Weiche, das Dunkle, das Weibliche usw., während Yang für das aktive Prinzip steht, für das Harte, das Helle, das Männliche usw. (vgl Abschnitt 2.1). Die Probleme unserer westlichen Gesellschaft lassen sich etwas vereinfacht vielleicht so zusammenfassen, daß das Yang-Prinzip über das Yin-Prinzip dominiert. Gewalt und Macht füllen die Schlagzeilen mehr als Gesten des Friedens, Männer bestimmen noch immer mehr als Frauen, und Erfolgsstreben wird mehr anerkannt als ein bescheidenes, ruhiges Leben.

Um diesen Zustand positiv zu verändern, müßten Yin und Yang mehr ins Gleichgewicht gebracht werden, und zwar sowohl im großen wie im kleinen, d.h. im öffentlichen Leben genauso wie bei jedem einzelnen Menschen. Wir bräuchten oft mehr innere Gelassenheit (Yin), um in der äußeren Welt sicher und richtig handeln zu können (Yang). Wir müßten für uns einen Weg der Mitte finden. An dieser Stelle kommen wir nun zurück zum Tai Chi und fragen, wie es uns dabei helfen kann. Ich möchte behaupten, daß wir durch Tai Chi lernen können, innere Ruhe und Harmonie zu erzeugen, die auch nach der eigentlichen Übung, bei der wir unsere Konzentration auf bestimmte Bewegungsabläufe richten, im Alltagsleben fortwirkt.

2 Herkunft und Entwicklung des Tai Chi

Die Grundprinzipien des Tai Chi sind nur dann richtig zu verstehen, wenn seine Wurzeln in der jahrtausendealten Kulturgeschichte Chinas gesucht werden. Dabei stoßen wir auf drei verschiedene Ansätze, die sich im Laufe der Zeit entwickelt haben:

  1. Die taoistische Philosophie und damit verbunden taoistische Atem- und Meditationstechniken
  2. die alte chinesische Gesundheitslehre, die besonderen Wert auf Krankheitsvorbeugung legte

Diese zwei. Aspekte werden in den folgenden Abschnitten gesondert behandelt, um hinterher auf die Frage zurückzukommmen, welche Bedeutung Tai Chi heute für uns im Westen haben kann.

2.1 Tai Chi und die taoistische Philosophie

Den Begriff Tai Chi kann man verschieden übersetzen. Zunächst einmal bedeutet er großer Balken, der das Dach des Hauses trägt und damit im übertragenen Sinne die Verbindung zwischen Himmel und Erde darstellt. Die alten Chinesen stellten sich die Erde als eine viereckige Fläche vor, über die sich der Himmel wie eine Kuppel spannte. Er wurde durch einen großen Mittelpfeiler getragen, eben das Tai Chi, der bis tief in die Erde hinabreichte. Genauso soll der Mensch stehen, fest verwurzelt in der Erde und aufgerichtet zum Himmel, zwischen diesen beiden Polen.

In einem mehr philosophischen Sinne bedeutet Tai Chi das erhabene Letzte oder das höchste Gesetz, das auch den Begriff „Tao“ wiedergegeben werden kann. Das Tao steht jenseits aller Beschreibungen als der Uranfang und das Urprinzip der ganzen Schöpfung. Im Deutschen finden sich Übersetzungen wie „Sinn“, „Wort“, „Weg“, „Wahrheit“, „Gott“, die alle nur einen Aspekt wiedergeben können. Den Chinesen ist ja eine Vorstellung von Gott als aktivem Schöpfer fremd, und so geht das Tao über die Gottesvorstellungen der großen Weltreligionen hinaus: Es umfaßt alles, was existiert, aber auch alles, was nicht existiert.Nicht selten finden wir statt „Tai Chi“ auch den längeren Namen Tai Chi Chuan (Taijuan). Die Silbe „Chuan“ bedeutet „Faust“ und verweist auf die Herkunft des Tai Chi als einer Schule der Kampfkünste. Da heute mehr der Aspekt der Bewegungsmeditation vom Vordergund steht, wird sie oft weggelassen.

Der Taoismus ist keine Religion im engeren Sinne, sondern kann wie der zeitgleich in China entstandene Konfuzianismus eher als eine Art Lebensphilosophie aufgefaßt werden. Als sein Urheber wird Laotse angesehen, der ebenso wie Konfuzius und Buddha etwa um 500 v. Chr. gelebt hat. Während Konfuzius ein strenges System von gesellschaftlicher Hierarchie und Moral entwarf, formulierte Laotse in seinen 81 der Nachwelt überlieferten Versen (dem Tao Te King) eine Lehre, die stärker auf innere Besinnung, Harmonie mit der Natur und Gewaltlosigkeit ausgerichtet ist. Um Laotse spinnen sich zahlreiche Legenden, und es ist nicht einmal gesichert, ob er wirklich gelebt hat und der Urheber dieser Verse war.

Richard Wilhelm, dessen Übersetzung von 1910 wohl die bis heute bekannteste geblieben ist, nannte Tao Te King im Untertitel. Das Buch von Sinn und Leben. Einige seiner Teile bringen die Grundprinzipien des Tai Chi hervorragend zum Ausdruck, insbesondere der 78. Vers, in dem es heißt:

„Auf der ganzen Welt gibt es nichts Weicheres und
Schwächeres als das Wasser. Und doch in der Art
wie es dem Harten zusetzt, kommt nichts ihm gleich.
Es kann durch nichts verändert werden.
Daß Schwaches das Starke besiegt und Weiches
das Harte besiegt, weiß jedermann auf Erden,
aber niemand vermag danach zu handeln.“

Gemäß diesem Schema können Körperteile, Bewegungsweisen, Nahrungsmittel usw. stärker dem Yin oder dem Yang zugeordnet werden. So ist z.B. Getreide mehr Yang (spitz, dem Himmel zustrebend), während Kartoffeln mehr Yin sind (rund, in der Erde liegend).Das Gegensatzpaar Yin Yang ermöglicht erst Entwicklung, so wie Tag und Nacht einander ablösen. Das Ursymbol des Tai Chi bringt zum Ausdruck. Es stellte ursprünglich zwei Fische dar, die sich im Kreis bewegen. An der Stelle mit der stärksten Konzentration vom „schwarz“ (Yin) findet sich ein kleiner weißer Punkt (Yang) und umgekehrt. Dies soll andeuten, daß auch im äußersten Yin noch ein Stückchen Yang steckt und umgekehrt, so daß es keinen Stillstand geben kann. Es gibt keinen Anfang und kein Ende, sondern nur den ständigen Wechsel von Beginnen und Enden. Es gibt auch kein absolutes „Gut“ und „Böse“; in einem steckt stets der Keim des anderen; sie bedingen sich gegenseitig wie die zwei Seiten einer Münze. Harmonie entsteht durch Balance und fließenden Wechsel der gegensätzlichen Polaritäten, was wir später anhand der Tai-Chi-Bewegungen besser nachvollziehen können. Hinter dem stetigen Wandel aber steht der Ursrung, das „Tao“ oder „Tai Chi“ als das „höchste Gesetz“.

Gemäß diesen philosophischen Grundprinzipien wurden vor allem in den taoistischen Klöstern fast 2500 Jahre lang verschiedenste Übungssysteme, wie Qi Gong entwickelt, die dazu dienten, Körper, Geist und Seele in Harmonie zu halten und Langlebigkeit zu erreichen. Diese Übungen umfaßten die Kunst des richtigen Atmens, der meditativen Versenkung und der perfekten Bewegung, bei der die innere Energie (Qi) voll zum Einsatz gebracht wurde. Um einen Zustand der vertieften Ruhe und gedanklichen Leere (Yin) zu erreichen, bedienten die Mönche sich der bewußten Lenkung von Atem und Bewegung (Yang). Damit wurden sowohl im Bereich der Gesundheit als auch im Bereich der Kampfkünste erstaunliche Ergebnisse erzielt.

2.2 Tai Chi und die alte chinesische Gesundheitslehre

Ein guter Arzt zeichnet sich in China bis heute dadurch aus, daß er möglichst keine kranken Patienten hat. Das heißt, der chinesischen Gesundheitslehre liegt ein Konzept zugrunde, das mehr auf die Vermeidung als auf die Behandlung von Krankheiten ausgerichtet ist (Präventivmedizin). Danach kann der Mensch durch regelmäßige körperliche Übungen, ergänzt durch gesunde Nahrung, bis ins hohe Alter kerngesund bleiben.

Zweitens wird ein traditioneller Arzt in China den Menschen stets als Einheit von Körper, Geist und Seele ansehen, ähnlich wie in unserer Naturheilkunde. Gemäß dem Konzept von Yin und Yang stehen innen und außen, oben und unten vorn und hinten usw. in Beziehung zueinander, un jeder Teil des Körpers ist mit allen anderen verbunden. Der bekannte Satz „ein gesunder Geist in einem gesunden Körper“, der aus der römischen Kultur stammt, kommt der chinesischen Auffassung recht nahe.

Schon vor mehreren tausend Jahren entstand in China das System der Akupunktur. Man entdeckte, daß der Mensch von einem Netzwerk von Energiebahnen überzogen ist, den Meridianen, die wiederum die Verbindung von Hunderten von Akupunkturpunkten darstellen. Alle diese Punkte korrespondieren mit bestimmten äußeren oder inneren Körperteilen. Es gibt 12 Hauptmeridiane, die jeweils einem Organ (Herz, Lunge. Leber, Magen usw.) oder einer Funktion(Kreislauf, Stoffwechsel) zugeordnet werden; dazu gibt es noch zwei zentrale Energiekanäle und zahlreiche andere Sondermeridiane.

Bei uns ist seit einigen Jahren die Behandlung von Krankheiten durch das gezielte Stechen von Nadeln in bestimmte Akupunkturpunkte bekannter geworden, ebenso die Akupressur (japanisch „Shiatsu“), eine Massagetechnik, die auf demselben System aufbaut. Dieses Konzept von Körperenergien hat sich bisher im Westen trotz aller Erfolge noch relativ wenig durchgesetzt, wohl deshalb, weil die Meridiane kein physisch greifbares Netz bilden, wie z.B. die Blutgefäße oder die Nervenbahnen. Doch inzwischen lassen sie sich eindeutig als feine elektrische Körperströme messen, so daß jeder Zweifel daran geradezu absurd erscheint. Diese Körperenergie oder Lebenskraft, von der hier die Rede ist, wird im chinesischen als „Qi“ (Ch`i) bezeichnet. Qi läßt sich aber nicht nur als Energie übersetzen, sondern auch als Luft und ist somit engstens mit der Atmung verbunden. Qi existiert im menschlichen Körper wie in der gesamten Natur.

Über die Atmung vollzieht sich aber der wichtigste energetische Austausch des Menschen mit seiner Umwelt. Auf fest Nahrung können wir für eine Wochen verzichten, auf flüssige Nahrung für einige Tage, aber auf die Atemluft nur für wenige Minuten. Auch in anderen Kulturen gibt es Begriffe für die Verbindung von Luft, Atmung und innerer Energie, so z.B. das indische „Prana“, das japanische „Ki“, das altgriechische „Pneuma“ oder das germanische „Odem“. Diese Qi-Energie zirkuliert auf den Meridianen im Körper und versorgt alle Organe mit frischen Lebenskraft. Ist sie blockiert, so entstehen Krankheiten, die entweder auf einem Übermaß (Fülle) oder einem Mangel (Leere) von Qi in bestimmten Bereichen des Körpers basieren. Auch hier finden wir wieder das Konzept von Yin und Yang; mit dem Ausatmen wird altes Qi ausgestoßen und mit dem Einatmen neues Qi aufgenommen. Damit ist aber keineswegs nur die Atemluft gemeint, sondern die gesamte Energie, die durch den Austausch über die Lungen im Körperinneren in Bewegung gesetzt wird und sämtliche Zellen mit frischer Lebenskraft versorgt.

Schon vor Tausenden von Jahren wurden deshalb in China spezielle Körperübungen entwickelt, die Bewegung und Atmung so miteinander verbinden, daß sich die Qi-Energie frei bewegen kann und Yin und Yang in Harmonie miteinander kommen. Eine der ältesten Überlieferungen geht zurück auf Kaiser Huang Ti, den sog. „Gelben Kaiser“, der China eine ganzes Jahrhundertlang (etwa 270 –2600 v.Chr) regiert haben soll. Er führte eine solches Übungssystem ein, das Krankheiten beseitigen und ein langes Leben garantieren sollte. Es wurde Tao Yin genannt, was soviel heißt wie „Übungen zum Leiten und Dehnen“, und mit ihm sollte eine bewußte Lenkung der Qi-Energie erreicht werden. Außerdem hält man Huang Ti für den Verfasser von Chinas ältestem Medizinbuch. Darin fragt er seinen Armeearzt Chi Po:

„Ich habe gehört, daß in früheren Zeiten
die meisten Menschen, nachdem sie 100 Jahre gelebt hatten,
immer noch kräftig und stark waren.
Heute sind viele Menschen schon mit 50 Jahren sehr schwach.
Warum? Sind die Umstände der Zeit daran schuld,
oder sind die Menschen selbst anders?“

Chi Po antwortete, daß die Vorfahren das Tao der Gesundheit kannten. Sie folgten immer dem Prinzip von Yin und Yang. Ihre Eß- und Trinkgewohnheiten waren maßvoll, sie hatten regelmäßige Zeiten der Arbeit und Ruhe, und sie überarbeiteten oder erschöpften sich nicht. Deshalb waren Körper und Geist bei ihnen in Harmonie, und sie waren fähig, ein natürliches Alter zu erreichen. Chi Po fährt fort, daß die Weisheit der Alten offensichtlich verloren sei und daß die Menschen nicht mehr so lange leben, weil ihre Lebensweise sich verschlechtert hat. Treffen diese Sätze nicht die Probeleme unserer heutigen Zeit wie den Nagel auf den Kopf?

Im 2. Jahrhundert n. Chr. lebte der berühmte chinesische Arzt Hua Tuo, der verschiedene schon länger bekannte Techniken der Nachahmung von Tierbewegungen zu einem geschlossenen Übungssystem zusammenfaßte. Er nannte es das „Spiel der fünf Tiere“ (nämlich Tiger, Hirsch, Bär, Affe und Kranich) und empfahl es, um die Gelenke beweglich zu halten und Verspannungen im Körper entgegenzuwirken. Offensichtlich waren solche aus der Beobachtung gewonnen Kenntnisse über natürliche Bewegungsnweisen eine wesentliche Grundlage für heilgymnaschtische Übungen. In den Bezeichnungen einzelner Figuren der Tai-Chi-Formen (z.B. „Der Kranich breitet seine Flügel aus“) spiegelt sich bis heute diese Wurzel wieder. Hua Tuo wird die folgende Aussage zugeschrieben:

„Der menschliche Körper will Arbeit
und Bewegung haben, nur sollen diese nicht
bis an die Grenze des Könnens getrieben werden.
Wenn der Körper in Tätigkeit ist, verdaut er
die Nahrungsstoffe, und das Blut durchströmt ihn,
so daß keine Krankheit entstehen kann,
genau wie eine Türangel, die nie verfault.“

Später wurden alle diese heilgynmastischen Übungsfolgen unter der Bezeichung Qi Gong zusammengefaßt, was soviel heißt wie „Arbeit mit der inneren Energie“. Neben Akupunkturbehandlung und Bewegungsübungen findet man alte chinesische Texte und Überlieferungen auch über Kräutermedizin und Pulsdiagnose, über Gesundheitskost und sexuelle Praktiken, worauf hier nicht weiter eingegangen werden kann. Allen aber ist gemeinsam, daß sie die Einheit zwischen Mensch und Natur (Kosmos, Tao) betonen sowie die Harmonie von Yin und Yang.

Diese Techniken zur Gesundheitspflege gehen einher mit dem Bestreben der Taoisten, ihren Körper und Geist so zu vervollkommnen, daß er „unsterblich“ werde. Es gibt Legenden von Meistern, die weit über 200 Jahre alt geworden sein sollen. Wenn dies auch nicht unser Ziel sein mag, so können wir doch zumindest lernen, daß regelmäßige körperliche und geistige Übungen den Alterungsprozeß stark verlangsamen. Nach chinesischer Auffassung sollte damit aber nicht erst im Alter, sondern möglichst schon in den Jahren der Kindheit und Jugend begonnen werden, so daß sich positive Gewohnheiten der Lebensführung einstellen. Gesundheit und Lebensfreude können nur durch eigenes Bemühen erreicht und erhalten werden – das sollten wir als die Quintessenz der alten medizinischen Weisheiten Chinas für uns lernen. Dem Patienten kommt dabei keine passive, sondern eine aktive Rolle zu; letztlich kann er sich nur selbst heilen.

3 Wirkung des Tai Chi Chuan auf den menschlichen Organismus

3.1 Das Nervensystem

Das Zentralnervensystem steuert bekanntlich die einzelnen Bewegungsabläufe,die Koordinierung verschiedener Bewegungen und das Gleichgewicht.Außerdem übernimmt das Nervensystem die Aufgabe der Steuerung und der Koordination vielfältiger Funktionen von verschiedenen Organen. Tai Chi bewegt nicht nur Muskeln und Gelenke und vertieft die Atmung, sondern es wirkt auch außerordentlich beruhigend auf das gesamte Nervensystem. Zugleich steigert es die geistige und körperliche Reaktionsfähigkeit. Die aufrechte Körperhaltung unterstützt die Funktion der zentralen Nervenkanäle längs der Wirbelsäule. So kann mehr Energie aus dem Bauch in den Kopf gelangen, was nach den alten Tai Chi Meistern die Vorbedingung für die Verjüngung eines Körpers ist.

Ausgehend vom Gehirn, reguliert das zentrale Nervensystem alle anderen Systeme und Organe im Körper und steuert alle Aktivitäten des Menschen. Da bei Tai Chi ungewohnte und komplexe Bewegungsabläufe ausgeführt werden, ist die volle geistige Aufmerksamkeit notwendig. Es heißt, daß während der Übung „der Körper dem Geist folgt“. Die Ausführung des Tai Chi erfordert die Koordination verschiedener Körperteile und -organe wie Arme, Rumpf, Beine und Augen. Die einzelnen Bewegungsfolgen müssen exakt ausgeführt werden und zu gleich flüssig miteinander verbunden werden. Das Ausführen solchen Folgen bedarf auch ausgezeichneten Fähigkeit der Koordinierung und Balancierung. Es führt zu einer besseren Aktivierung des zentralen Nervenssystems und einer besseren Regulierung der Funktionen verschiedener Organe und Systeme. Das Gefühl einer gesteigerten Wahrnehmung unseres Körpers verbindet sich mit einer wohltuenden Ruhe, die durch harmonische Bewegungen und tiefe Atmung entsteht.

So wird jeder, der sich in Tai Chi übt, nach einiger Zeit eine gelassenere und heitere Grundstimmung erleben. Man fühlt sich hinterher sowohl körperlich als auch psychisch wohl und entspannt. Außerdem wird die körperlich und geistige Reaktionsfähigkeit gesteigert. Der Ausübende erwirbt sich dadurch eine sprudelnde Lebensfrische. Ferner können Menschen mit chronischen Erkrankungen eine positivere allgemeine Einstellung gewinnen.

3.2 Einflüsse auf das Atmungssystem

Die richtige Atmung spielt in allen chinesischen Gesundheitsübungen eine große Rolle. Beim Tai Chi wird eine bestimmte Körperhaltung, wie locker hängende Schultern, gerade gestellter Kopf, natürlich aufrechter Oberkörper, freie entspannte Brust und die Verlagerung der Achtsamkeit auf den Dantian im Bauch verlangt. Die üblich angewandte Atmungstechnik ist dabei die Zwerchfellatmung (Bauchatmung). Die Atmung erfolgt überwiegend durch eine Auf- und Abbewegung des Zwerchfells, was zu ständig wechselnden Druckverhältnissen im Bauchraum führt.

Dadurch werden die Bauchorgane sanft massiert, die Verdauung gefördert und das Herz entlastet. Wenn man langfristig Tai Chi ausübt, wird die Atemfrequenz reduziert, die Lungenkapazität vergrößert und die allgemeine Belastbarkeit erhöht. Man wird durch eine körperliche Belastung nicht mehr so schnell kurzatmig sein. Das Atmen soll in jedem Fall ungezwungen, ruhig, tief, langsam, fein, gleichmäßig und sanft sowie im Einklang mit der Bewegung ausgeführt werden.

3.3 Einflüsse auf das Verdauungssystem

Die Aktivierung und Regulierung des zentralen Nervensystems und des vegetativen Nervensystems bewirken unter anderem auch eine Funktionsbesserung des Verdauungssystems. Die Peristaltik (Darmbeweglichkeit), die Sekretion (Ausscheidung von Magen- und Gallensäften) und die Resorption (Aufnahmefähigkeit der Dünndarm- und Dickdarmschleimhaut) des gesamten Verdauungssystems werden dadurch verbessert.

Außerdem bewirkt die Zwerchfellatmung eine mechanische Stimmulierung im Sinne der „Selbstmassage“ auf den Verdauungstrakt. Gleichzeitig wird der Blutkreislauf verschiedener innerer Organe im Bauch verbessert. Dies ermöglicht eine bessere Verdauungsfunktion. Deswegen kann Tai Chi zur Behandlung und Vorbeugung gegen viele Funktionsstörungen der Verdauungsorgane eingesetzt werden.

3.4 Einflüsse auf Atmung und Kreislauf

Die richtige Atmung spielt in allen chinesischen Gesundheitsübungen eine große Rolle. Bei Tai Chi soll ruhig und tief, gleichmäßig und sanft geamtet werden. Die Atmung soll sich beim Tai Chi auf natürliche Weise den Bewegungen des Körpers anpassen, dadurch wird der Blutdruck reguliert und das Herz entlastet. Gleichzeitig führt die Zwerchfellatmung zu einer ständigen Druckveränderung in der Bauchhöhle. Wenn sich der Druck in der Bauchhöhle erhöht, kann des venöse Blut aus dem Kreislauf besser in die rechte Herzkammer zurückfließen, und während sich der Druck vermindert, kann das arterielle Blut aus der linken Herzkammer vermehrt über die Aorta in den Blutkreislauf hineinströmen. Die Lungenkapazität wird besser genutzt, und es gelangt mehr Sauerstoff in die Blutbahnen.

3.5 Einflüsse auf den Bewegungsapparat

Die besondere Haltung der gesamten Wirbelsäule und die Art und Weise der Bewegung wirken sich positiv auf Form und Funktion der Wirbelsäule aus. Bei der Ausübung von Tai Chi Chuan wird die Wirbelsäule aufgerichtet, das Becken leicht nach vorne und oben gedreht. Dadurch stehen die Lendenwirbel mehr oder weniger senkrecht auf dem Kreuzbein. Ein weiteres typisches Merkmal des Tai Chi's, nämlich die fließenden und kreisenden bzw. runden Bewegungen beanspruchen verschiedene Muskeln in so hohem Maße (ohne Anstrengung), dass sie auch im Laufe der Jahre kräftig, geschmeidig und elastisch bleiben bzw. werden. Auch die Knochen werden durch diese Muskelarbeit positiv beeinflußt. Die Knochen bleiben stabil, weil u.a. der Calciumeinbau in den Knochen verstärkt wird.

4 Zusammenfassung

Wer regelmäßig Tai Chi praktiziert, soll nach Chinesischer Auffassung „den Geistesfrieden eines Weisen, die gesundheitliche Robustheit eines Holzfällers und die Gelenkigkeit eines Babies bekommen“.

Tai Chi - Schattenboxen


Das Schattenboxen „Tai Chi Chuan“ (eine Hauptrichtung der chinesischen Kampf- und Bewegungskünste „Kung Fu“) ist eine sanfte, lockere Bewegungstherapie. Tai Chi bedeutet „das höchste Gesetz“; Chuan heisst Faust. Die Ursprünge des Tai Chi verlieren sich im Nebel der Mythen und Legenden.

Als Begründer des Tai Chi wird der taoistische Mönch Chang San Feng genannt, der im 12. Jahrhundert lebte. In der Literatur wird jedoch schon viel früher von Kampfkünsten berichtet, die Elemente des späteren Tai Chi Chuan enthielten.Nach einer anderen Entstehungsversion soll Tai Chi als innerer, nördlicher Stil gegen Ende der Ming-Dynastie im Dorf Chenjiangou entstanden sein. In dieser Gegend hatte man zuvor bei zahlreichen kämpferischen Auseinandersetzungen immer schnelle Schläge und Stöße, bzw. kraftvolle Bewegungen angewandt. Nun machte man sich ein Prinzip chinesischer Philosophie zu eigen, wonach das Starke und Harte durch das Schwache und Weiche besiegt wird. Man übte sich fortan in sanften, gemessenen Aktionen, die zu einem rhythmischen und harmonischen Bewegungsfluss aneinander gereiht wurden.

Tai Chi Chuan weist auch viele Ähnlichkeiten mit den im „Quangjing“ beschriebenen Stilrichtungen und Kampftechniken auf. Diese von einem berühmten General der Ming-Dynastie verfasste Buch, berichtet von 16 verschiedenen Boxschulen. Man vermutet, dass Elemente dieser Boxstile im Tai Chi Chuan zu einer Einheit zusammengefügt und so weiterentwickelt wurden.Heute unterscheidet man beim Tai Chi Chuan mehrere Stilarten, von denen es noch zahlreiche Varianten gibt:

Der traditionelle Chen-Stil entstand ca. 1650 in der Chen-Familie. Andere Stile haben sich aus ihm entwickelt. Die Übungen werden in unterschiedlichen Tempi ausgeführt und wirken kämpferisch. Der Yang-Stil wird langsam und gelassen ausgeführt – der gesundheitsfördernde Aspekt der raumgreifenden Bewegungen steht im Vordergrund. Er wurde erstmals um 1800 am kaiserlichen Hof von Meister Yang Lu Chan unterrichtet und ist heute in ganz China verbreitet.

Als einfache Variante übt man 37 Figuren und 13 Bewegungsabläufe mit und ohne Partner. Die „Form“ besteht aus 60 exakt ausgeführten Bewegungen. Diese Ganzkörperbewegungen mit ständigen Gewichtsverlagerungen (drehen, ausweichen, ziehen, wenn man gestoßen wird, usw.) und die angepasste Atemtechnik dienen der meditativen Selbstversenkung, d.h. dem Erleben der innneren Kraft Chi. Typisch für den Yang-Stil sind die „push hands“, d.h. das gekonnte Wegstoßen des Gegners.

In Europa wurde Tai Chi Chuan auch unter dem Namen „13 Bewegungsformen“ bekannt, womit 8 Grundhaltungen der Hände und 5 Körperstellungen gemeint sind. Tai Chi ist der chinesischen und westlichen Medizin als eine sanfte aber wirksame Methode bekannt, um den Kreislauf zu stabilisieren und die Organe zu stärken. Die Entspannung des Körpers erfolgt bei gleichzeitiger Konzentration auf die Übungen. Grundlegende Übungsziele des Tai Chi sind: Gesunderhaltung, Selbstverteidigung und Meditation.

Chi, der Kampfkunst-Aspekt hat beim Tai Chuan eine untergeordnete Bedeutung, ist aber in manchen Angriffs- und Abwehrbewegungen erkennbar geblieben. An die Stelle von Härte ist eine sanfte Behutsamkeit getreten, die zu Entspannung und Gelassenheit führen soll. Tai Chi Chuan ist auf dem Prinzip des Yin und Yang aufgebaut: Harte und nachgiebige Bewegungen und Ruhepausen sollen sich harmonisch verbinden. Die zweckmässigen Bewegungen von Händen, Unterarmen, Schultern, Hüften und Beinen werden wie ein langsamer Tanz vorgeführt.

Man übt allein, zu zweit oder in Gruppen. Kraft und Schnelligkeit spielen keine Rolle, wohl aber die Folge der Bewegungen und die Genauigkeit ihrer Ausführungen. Bei Problemen mit der Wirbelsäule und Verspannungen im Nacken und Schulterbereich dient Tai Chi mit Erfolg der Prävention und Rehabilitation. Tai Chi ist gelenk- und bänderschonend, seine gesundheitsfördernde Wirkung ist unbestritten.In China betreiben Millionen Menschen, ob alt oder jung, Frauen oder Männer, allmorgendlich in Parks und Betrieben auf Straßen, Plätzen und Bahnhöfen diese Gesundheitsgymnastik. Tai Chi Chuan ist in jedem Alter erlernbar und in kaum einer anderen Sportart sind so viele ältere Menschen aktiv.